Bauchschmerzen sind eine Quälerei – für das betroffene Kind, aber auch für die Eltern, die das Leiden miterleben | pvproductions, Freepik

„Kinder mit Bauchschmerzen müssen sich ernst genommen fühlen“

Autorin

Anna Butterbrod

Ob Baby, Kleinkind oder Teenager: An dem Problem „Bauchschmerzen“ kommen Eltern kaum vorbei. Im Interview mit BRODZEIT erklärt Dr. Burkhard Rodeck, Kindergastroenterologe und Vertreter der Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V. (DGKJ), warum diese Beschwerden so häufig auftreten und wie man sie behandelt.

Sind Bauchschmerzen ein verbreitetes Problem bei Kindern?

Ja, sie treten sehr häufig auf. Laut KIGGS, einer Langzeitstudie des Robert-Koch-Institutes, leidet ein Drittel der 11- bis 17-jährigen Mädchen darunter, bei den Jungs ist es ungefähr ein Viertel.

Warum ist das so?

In 85 bis 90 Prozent der Fälle gibt es keine Hinweise auf eine organische Ursache oder eine Erkrankung. Die Kinder und Jugendlichen leiden stattdessen unter funktionellen Bauchschmerzen. Das heißt: Bei ihnen werden „normale“ Körpersignale, etwa ein leichtes Bauchgrummeln, sehr viel schneller der Kategorie Schmerz zugeordnet als bei anderen Menschen. Die Kommunikation zwischen Gehirn und Magen-Darm-Trakt ist gestört. Auch das Reizdarmsyndrom zählt dazu.

Was kann man in diesen Fällen tun?

Erstmal muss die Diagnose als solche benannt werden, denn dadurch fühlen sich die Patient:innen ernst genommen. Die Sorge um die Beschwerden trägt oft dazu bei, dass sich diese verschlimmern. Aufklärung und Entwarnung sind daher in diesen Fällen das allerwichtigste, wenn die Basisdiagnsotik unauffällig ist. Ich sage: Du hast keine schlimme Erkrankung, aber funktionelle Bauchschmerzen. Die bedrohen nicht dich und dein Leben, sie sind einfach eine Begleiterscheinung. Ich rate dazu, sich nicht aufs Problem zu fokussieren, sondern auf den Spaß im Alltag. Allein das kann schon Linderung verschaffen.

Welche Maßnahmen gibt es noch?

Das Schreiben eines Symptomtagebuchs, verhaltenstherapeutische Maßnahmen oder darmzentrierte Hypnotherapie können helfen. Auch Medikamente wie Pfefferminzöl, Ballaststoffe und Probiotika. Selbst wenn ich mit einem Placebo arbeite, hat das Effekte. Weil das Gehirn des Kindes registriert: Mir wird eine Behandlung angeboten und durchgeführt. Jemand kümmert sich um mich! Psychologischer Beistand ist immer gut.

Viele Kinder scheuen einen Arztbesuch und beißen daher bei Bauchschmerzen die Zähne zusammen, statt etwas zu sagen | Foto: Freepik

Wann sollte ich mit meinem unter Bauchschmerzen leidenden Kind zum Arzt gehen?

Wenn der Leidensdruck hoch ist. Hat ein Kind nur alle halbe Jahre mal Bauchschmerzen, ist das nichts Besonderes. Manche Kinder leiden allerdings auch heftig, ohne zu klagen. Die denken sich: Ein Arztbesuch ist doof, ich halte schon durch, ich bin stark. Darin liegt für uns oft die ärztliche Kunst: Wir müssen erkennen, wie hoch das Leid wirklich ist und wann Klärungsbedarf besteht.

Was ist mit Kindern, bei denen Sie eine ernste Erkrankung vermuten? Wie gehen Sie da auf Spurensuche?

Die Vorgeschichte muss sorgfältig erhoben werden. Fragen, die ich stelle, sind: Gibt es Magen-Darm-Erkrankungen in der Familie? Treten die Schmerzen immer an derselben Stelle auf oder an unterschiedlichen? Leidet das Kind an Erbrechen, Sodbrennen, Schluckbeschwerden oder Durchfall? An Gewichtsverlust oder einem verzögerten Wachstum? Treten die Schmerzen besonders nachts auf? Alle nächtlichen Beschwerden sind ein Alarmsignal.

In wiefern kann die Ernährung zu Bauchschmerzen führen?

Da frage ich nach drei Auslösern, die besonders relevant sind: Milchzucker, Fruchtzucker und Sorbit, bzw. Zuckerersatzstoffe. Rund 85 Prozent unserer Bevölkerung besitzen die Fähigkeit, Milchzucker zu verstoffwechseln, die übrigen 15 Prozent nicht. Sie können dadurch ein Problem haben. Im Säuglings- oder Kleinkindalter klappt das Verarbeiten noch. Aber mit dem Alter steigen die Beschwerden. Diese sind übrigens vererbbar: Hat die Mama eine Laktoseintoleranz, ist beim Kind mit hohem Milchgenuss nicht mehr viel Diagnostik nötig.

Warum zählt Fruchtzucker zu den kritischen Inhaltsstoffen?

Der hört sich erstmal nach „bio“ an und ist damit vermeintlich gesund. Fruchtzucker ist aber nicht gesund. Er belastet den Magen-Darm-Trakt und ist nur in bestimmten Mengen, die sehr individuell sind, vom Körper aufnehmbar. Das Problem: Fruchtzucker gelangt in tiefere Darmabschnitte, wo Billionen von Bakterien wohnen, darunter auch viele gute. Bakterien lieben Zucker, er ist für sie wie ein „Sonntagsbraten“. Wenn sie ihn verarbeiten, kommt es zu Vergährungsprozessen, Darmwanddehnungen und somit zu Bauchschmerzen. Trinkt ein Kind viel Apfelsaft, kann ich gleich sagen, woher die Bauchschmerzen kommen. Das heißt nicht: Nie mehr einen Apfel oder Fruchtsaft, sondern einfach nur weniger davon.

Als dritten Auslöser nannten Sie den Süßstoff Sorbit.

Da ist auch die Menge das Problem. Sorbit steckt in gesüßten Lebensmitteln und Getränken, aber auch in Kaugummis. Habe ich einen Kaugummikauer oder einen Eisteetrinker vor mir, weiß ich auch da schnell Bescheid. Zucker-Intoleranzen wie die genannten drei sind relativ leicht zu erfragen, ansonsten kann ein Atemtest Aufschluss geben.

Auch ständiges Kaugummikauen kann bei Kindern zu Bauchschmerzen führen | Foto: Pixabay

Wie oft diagnostizieren Sie diese Intoleranzen?

Ziemlich oft. Genau wie eine Neigung zur Verstopfung. Dann gibt es natürlich jede Menge seltene Erkrankungen, die Bauchschmerzen verursachen können – zum Beispiel eine tiefsitzende Lungenentzündung oder ein Harnwegsinfekt. Aber Erkrankungen wie diese gehen in der Regel mit weiteren Symptomen einher.

Was ist, wenn die Lösung nicht so klar auf der Hand liegt?

Eine Ultraschalluntersuchung des Bauches oder eine Stuhldiagnostik, die auf Keime hindeuten kann, gehören zu möglichen Maßnahmen. Wenn ich Unklarheiten habe, muss ich auch zwingend eine Zöliakie und anderes ausschließen – das geht nur mit einer Blutuntersuchung.

Kann ich bei Verdacht auf eine Intoleranz einfach auf eigene Faust die betroffenen Lebensmittel reduzieren oder komplett streichen, um herauszufinden, ob das etwas bringt?

Mit Zucker kann man das ruhig im Alleingang ausprobieren. Aber auf keinen Fall mit Gluten! Zöliakie ist eine relativ häufig auftretende Erkrankung, einer von ca. 200 Menschen ist betroffen. Wenn die- oder derjenige vor einem Arztbesuch glutenhaltige Lebensmittel weglässt, kann eine Zöliakie weder bewiesen oder ausgeschlossen werden, denn sie ist ja in dem Moment behandelt. Um eine gesicherte Diagnose erhalten zu können, müsste das Kind dann erst wieder monatelang Gluten zu sich nehmen. Daher in diesem Fall bitte keine Selbstversuche!

Gibt es eigentlich auch eingebildete Bauchschmerzen?

Schmerz ist ein wichtiges Signal unseres Körpers. Er ist nicht unser Feind, sondern unser Freund: Er schützt uns! Aber Schmerz in Situationen, die nicht gefährlich sind, ist blöd. Er ist auf jeden Fall da, nicht eingebildet. Betroffene verspüren diesen Schmerz. Mit Aussagen wie „Du hast nichts“, „Wir finden nichts“ oder „Beiß die Zähne zusammen“ nimmt man Patient:innen in ihrem Beschwerdebild nicht ernst. Im Zweifelsfall rate ich daher zum Arztbesuch. Die Basisdiagnostik können Kinderärzt:innen machen. Kommen die nicht weiter, gibt es bundesweit Zentren für Kinder-Gastroenterologie, die Eltern mit ihren Kindern aufsuchen können.

Experte

Dr. Burkhard Rodeck

ist Kinder- und Jugendarzt, Neonatologe und Kinder-Gastroenterologe. Er vertritt die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) und die Bundesarbeitsgemeinschaft Gesundheit & Frühe Hilfen, die sich für Chancengleichheit einsetzt, damit Kindern unabhängig vom sozioökonomischen Status der Familie gesund aufwachsen können.

Das könnte dich auch interessieren

Der Münchner Mediziner Prof. Dr. Berthold Koletzko erklärt, warum so viele deutsche Kinder unter Übergewicht leiden – und wie sie mit dem Limo-Wasser-Experiment Kilos verlieren können

Essen für das Klima und die Gesundheit – wie die „Planetary Health Diet“ den Planeten und Leben retten soll. So probierst du‘s selber aus

Wie gesund ist Staudensellerie eigentlich? Muss ich ihn schälen? Kann ich ihn einfrieren? Und ist Selleriesaft wirklich eine Wunderwaffe?