
„Mein Aha-Erlebnis kam nach sechs Wochen ohne Zucker“
Anna Butterbrod
Durch tiefgründige Recherchen wurde sie zu einer Zucker-Expertin: Seit Jahren beschäftigt sich Journalistin und Filmemacherin Marianne Falck mit dem „süßen Gift“. In ihrem Ratgeber „Zuckerfrei von Anfang an“ (Heyne) erklärt die zweifache Mutter, warum man seine Kinder mit möglichst wenig Zucker ernähren sollte. Im Interview mit BRODZEIT gibt sie praktische Tipps für einen weniger süßen Alltag, der trotzdem allen schmeckt.
Was heißt es, sich zuckerfrei zu ernähren? Muss ich dafür jeglichen Zucker weglassen – also auch den Fruchtzucker im Obst?
Der Hashtag #zuckerfrei ist in den sozialen Medien schwer im Trend. Hinter den Empfehlungen vieler Influencer:innen steckt jedoch nicht automatisch eine zuckerarme Ernährung. Dass Süßen mit Datteln gesünder ist als mit Zucker, ist auch etwa so ein Mythos. Manche dagegen streichen auch Obst von ihrem Speiseplan. Davon raten Experten aber ab, weil man damit auf wichtige Vitamine, Mineral- und Ballaststoffe verzichtet. Wichtig ist, was Fachgesellschaften und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfehlen. Deren Vorgaben sollte man beachten, wenn man sich möglichst zuckerarm ernähren möchte.

Und wie lauten die Vorgaben, was Zucker angeht? Wieviel davon sollten Kinder essen, wieviel Erwachsene?
Der tägliche Pro-Kopf-Verbrauch von Zucker in Deutschland liegt bei 93 Gramm. Die WHO empfiehlt aber ganz andere Werte: Sie sagt, dass wir maximal fünf bis zehn Prozent der täglichen Kalorienzufuhr in Form Zucker zu uns nehmen sollten. Dazu zählt nicht der natürliche Zucker im Obst, sondern der Honig im Tee, das gesüßte Müsli und überhaupt alle Lebensmittel, denen Zucker zugesetzt wird. Bei Kindern sind das drei bis sechs Teelöffel (12 bis 25 g) pro Tag, bei Erwachsenen sechs bis zwölf Teelöffel (25 bis 50 g). Diese Richtwerte hängen mit den gesundheitlichen Folgen zusammen, die ein dauerhaft zu hoher Zuckerkonsum nach sich zieht: Übergewichtige Kinder werden XXL-Teenager und schließlich fettleibige Erwachsene, die unter Folgekrankheiten wie Herz-Kreislauf-Störungen, Diabetes Typ 2 oder einer Fettleber leiden. Laut Forscher:innen begünstigt Übergewicht 13 verschiedene Krebsarten. Zucker ist zudem ein Feind unserer Mundgesundheit und fördert Karies sowie Parodontitis.
Sie und Ihre Familie verzichten auf Industriezucker und Fertigprodukte, die zugesetzten Zucker enthalten. Wie kam es dazu?
Ich mache das schon seit über 20 Jahren. Damals hatte ich wiederkehrende Erkältungskrankheiten und wusste nicht, woher das kam. Mein Hausarzt brachte mich dann auf das Thema, als er mir vom Zusammenhang der Darmgesundheit und des Immunsystems erzählte. Er meinte, ich solle mich mal sechs Wochen komplett zuckerfrei ernähren – ganz streng, in dieser Phase sollte ich auch zuckerreiche Obstsorten wie Bananen vom Speiseplan streichen.

Fiel Ihnen die Umstellung schwer?
Nicht wirklich, aber sie sorgte für ein Aha-Erlebnis. Denn ich war zu diesem Zeitpunkt fest überzeugt davon, mich bereits gesund zu ernähren. Schließlich kaufte ich Bio-Früchtejoghurts und aß als gesund angepriesene Müsliriegel. Als ich meine Lebensmittel-Favoriten aber mal genauer unter die Lupe nahm, erkannte ich, was das eigentlich für Zuckerbomben sind.
Welche Veränderungen bemerkten Sie durch den Verzicht auf Zucker?
Die Auswirkungen können sehr individuell sein. Aber mir ging es rundum besser. Ich brauchte weniger Schlaf, war konzentrierter. Sehr praktisch, da ich zu dem Zeitpunkt gerade meine Abschlussarbeit für die Uni schrieb. Wiederkehrende, hartnäckige Atemwegsinfektionen hatte ich seitdem nicht mehr – zumindest, bis Corona kam. Leser:innen meines Buchs berichten mir außerdem von einer besseren Beziehung zum Essverhalten – und von besserer Haut.
Aber wenn anscheinend jeder weiß, wie schädlich Zucker für unsere Gesundheit ist – warum wird er dann so vielen Lebensmitteln zugesetzt? Zucker versteckt sich sogar in herzhaften Produkten wie Wurst, Brot oder Ketchup…
Die Industrie hat erkannt, dass Zucker ein wunderbarer Geschmacksträger ist, für eine tolle Konsistenz sorgt und konservierend wirkt. Ein ebenso relevantes Argument: Er ist billig. In letzter Zeit ist zwar auch der Preis für Zucker stark gestiegen, aber als Zusatzstoff ist er immer noch günstiger als viele andere. Dadurch machen die Hersteller:innen große Gewinne. Das lässt sich alles nachvollziehen. Aber warum muss es denn gleich so viel Zucker sein? Es werden bei Fertigprodukten meist nicht ein bis zwei Gramm pro Portion hinzugefügt, sondern oft zehn bis 20 Gramm – oder sogar mehr. Das ist unglaublich viel.

Ist Zucker wirklich ein Gift oder eine Droge, die süchtig macht?
Zucker wird vom Gehirn als Belohnung wahrgenommen, daher steigt unser Verlangen danach, wenn wir zuckerhaltige Lebensmittel zu uns nehmen. Besonders fatal ist das im Fall von Fruchtgetränken, Limonaden oder Energydrinks. Denn die ziehen ja nicht einmal ein Sättigungsgefühl nach sich, was dazu führt, dass wir weiter und weiter trinken. Manche Wissenschaftler:innen wie der amerikanische Kinderarzt und Endokrinologe Prof. Robert Lustig bezeichnen Zucker in hohen Dosen daher als Gift.
Sie haben Ihre zwei Kinder, die 2015 und 2018 zur Welt kamen, von Anfang an zuckerfrei ernährt. Wie aufwändig ist ein Alltag mit Kleinkindern, wenn viele Convenience-Produkte wegfallen?
Ich fand es nicht so aufwändig. Statt Quetschies habe ich für unterwegs eben Obst, weiches Gemüse, Hummus oder vom Frühstück übrig gebliebenen Porridge eingepackt. Im Sizilien-Urlaub habe ich statt Gläschen zu kaufen in der Küche unserer Ferienwohnung Karotten weich gekocht, ein wenig Öl drüber geträufelt, fertig. Schade ist nur, dass wir alle in einer sogenannten adipogenen Umwelt leben. Wenn wir uns umschauen, stehen überall Snackautomaten voller Süßkram und Limonade – egal, ob am Bahnhof oder im Krankenhaus. In Bäckereien gibt es meist statt handwerklich gut gemachtem Kuchen mit etwas besserem Nährstoffprofil nur günstig hergestellte Backwaren mit Weißmehl, in denen null Nährwerte stecken. Deswegen ist Vorbereitung wichtig, wenn man unterwegs ist. Zu Hause essen wir möglichst viele unverarbeitete Lebensmittel, unterwegs gehen wir auch ins Lieblinsgcafé oder mal in eine Eisdiele.
Wie finden das Ihre Kinder? Solange sie klein sind, essen sie meist, was man ihnen vorsetzt. Aber spätestens im Kita- oder Kindergartenalter wird‘s doch schwierig, wenn Kindergeburtstage stattfinden oder Freunde spannendere Sachen in der Brotdose haben?
Kinder denken gar nicht so darüber nach, was da auf ihrem Teller oder in der Box landet. Hauptsache, es schmeckt ihnen. Meine Kinder dürfen bei Kindergeburtstagen ganz normal mitessen. Manches entzieht sich naturgemäß unserem Einfluss als Eltern: In Kita und Schule wurde zum Beispiel jeder brav absolvierte Corona-Abstrich mit einer Süßigkeit belohnt. Das fand ich nicht gut, konnte es aber auch nicht ändern. Wenn meine Kinder mit mir einkaufen gehen, wissen sie dagegen genau, dass ich nur dunkle Schokolade kaufe und keine andere. Deswegen leisten sie sich auch keine Wutausbrüche im Supermarkt.

Und wenn sie andere Süßigkeiten geschenkt bekommen?
Dann können sie die essen – machen sie aber gar nicht immer. Zum Beispiel können sie solche Mitbringesel in ihr Süßigkeiten-Sparglas werfen. Jedes meiner Kinder hat eines und wenn es voll ist, dürfen sie sich ein kleines Geschenk aussuchen. Das finde ich eine praktische Regelung, denn gerade an Weihnachten oder Ostern wird man zugeschwemmt mit Süßigkeiten – und auch im Restaurant oder beim Frisör gibt‘s oft industrielle Süßigkeiten für Kinder. Ich belohne meine Kinder dafür, wenn sie auf den Verzehr verzichten.
Was gibt es noch für Anti-Zucker-Tricks?
Manche Eltern erlauben Süßigkeiten nur an bestimmten Tagen in der Woche oder nur direkt nach einer Mahlzeit, damit der Blutzucker nicht zwischendurch in die Höhe schießt. Wenn man zu Hause ein Süßigkeitenfach hat, die Kinder ständig drangehen und es einen nervt, dann weg damit! Was nicht da ist, kann nicht gegessen werden. Aber man sollte dann Alternativen anbieten: ein Stück dunkle Schokolade, eine Handvoll Nüsse oder andere gesunde Knabbereien. Meine Kinder haben grundsätzlich verstanden, was ich mache und warum das wichtig ist. Manchmal achten sie mehr darauf und manchmal weniger.
Wie haben Sie es Ihren Kindern erklärt?
Ich betone immer: Ihr bleibt stark, wenn ihr weniger hochverarbeitete Lebensmittel mit Zucker esst. Manchmal erläutere ich ihnen auch, was alles Gutes in frischen Lebensmitteln wie Erdbeeren oder Radieschen steckt. Manchmal ist der „Erklär-Bär“ aber auch nicht der richtige Ansatz. Da ist es wichtiger, auf andere Weise eine Beziehung zum Essen herzustellen. Wir haben zum Beispiel im Garten ein Hochbeet, in dem wir gemeinsam Rucola anpflanzen. Würde ich den im Supermarkt kaufen, würde er sie nicht interessieren. Aber so lieben sie die ziemlich scharfen, selbst gepflückten Blätter. Die haben dann einen ganz anderen Wert für sie. Wenn sich am Esstisch Mauern oder Probleme auftun, muss man Kinder ab und zu einfach machen lassen. Kleine dürfen ruhig mal mit Essen spielen und Größere motiviert es, wenn sie beim Backen oder Kochen helfen dürfen.
Was sind Ihre Tipps für Familien, die ihre tägliche Menge an Zucker reduzieren wollen? Wo fängt man an, ohne dass es allzu sehr weh tut?
Erstmal sollte man gucken, wie es eigentlich mit dem eigenen Zuckerkonsum aussieht. Welche Fertigprodukte konsumiere ich regelmäßig und wieviel Zucker verbirgt sich darin – auch in Tiefkühl-Gemüse? Und wieviel Zucker nehme ich flüssig zu mir? Apfelsaft klingt gesund, in 250 ml davon stecken aber auch sieben bis acht Würfel Zucker, ungefähr genauso viel wie in Cola. Für Eltern von Kleinkindern gilt: Achtung bei Produkten, die angeblich „ohne Zuckerzusatz“ produziert werden. Es gibt Keksbreis, die pro Portion auf 30 g Zucker kommen, das sind zehn Würfel!

Worauf sollten Eltern beim Einkauf achten?
Sie sollten zu kleinen Detektiven werden und immer aufs Etikett schauen: Eine kurze Zutatenliste bedeutet, dass es sich um ein wenig verarbeitetes Nahrungsmittel handelt, daher steckt darin auch weniger Zucker. Familien sollten nicht auf sogenannte „Kinderlebensmittel“ reinfallen, denn die sind meist zuckerhaltiger als vergleichbare für Erwachsene. Und oft auch teurer! Das ist ziemlich frech, finde ich. Müsli sollte man sich selber mischen, statt es fertig zu kaufen. Haferflocken, Cornflakes und ein paar frische Früchte, mehr braucht es nicht. Und dann weiß man auch genau, was drinsteckt.
Was halten Sie vom geplanten Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel?
Jugendärzte, Fachgesellschaften und Verbraucherorganisationen befürworten dies. Als Mutter finde ich es auch sinnvoll. Warum? Nur ungesunde Lebensmittel werden beworben, aber nicht die nährstoffreichen wie Gemüse, Obst oder Getreide. Weil die Industrie damit die größten Gewinne erzielt. Es gibt keinen vorhandenen Verbraucherschutz, gerade für die Kleinsten. Kinder sind die Zukunft unserer Gesellschaft. Wenn die schon krank starten, wo soll das dann hinführen? Wir sollten Prävention sexy machen.
In Großbritannien, Finnland und Frankreich gibt es eine Zuckersteuer („Limo-Steuer“). Das heißt: Zuckerhaltige Getränke oder Süßigkeiten werden mit einer Extra-Steuer belegt. Das führte dazu, dass viele Produzent:innen den Zuckergehalt ihrer Produkte runterschraubten und die Fettleibigkeit bei Kindern rückläufig ist. Wäre so etwas auch in Deutschland denkbar?
Das ist schwierig, da es in Deutschland seit Jahren eine ganz starke Zucker- und Lebensmittellobby gibt, die alles tut, um das zu verhindern. Darum geht es bei diesem Thema nicht wirklich vorwärts. 2021 flog eine geplante Zuckersteuer aus dem Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP. Und das, obwohl die Einführung dieser Steuer von Mediziner:innen, Wissenschaftler:innen, Zahnärz:innen und vielen anderen Expert:innen klar befürwortet worden war. Am besten wäre es diesen zufolge, man würde auch gleich eine Snacksteuer einführen für alles, was den Blutzucker schnell in die Höhe jagt. Aber davon sind wir in Deutschland noch Lichtjahre entfernt. Dabei würde uns das noch in einem weiteren wichtigen Punkt etwas bringen: Sinkt der Absatz von Süßigkeiten, entsteht dadurch auch weniger Plastikmüll. Wir leben in einem Zeitalter, in dem wir das Gesamtbild betrachten müssen.

Du willst mehr über die Machenschaften der deutschen Zuckerindustrie erfahren? Dann schaue dir die preisgekrönte BR-Doku „Süße Verführung der Zuckerlobby“ auf YouTube an, für die Marianne Falck gemeinsam mit Almut Gronauer und Hedrik Loven recherchierte. 30 Minuten, die sich lohnen!
