
„Hinter den Bauchschmerzen meines Sohnes steckte Zöliakie!“
Anna Butterbrod
Es war die Hölle. Als die Diagnose kam, habe ich nur geheult. Bis morgens um drei saß ich mit meinem Laptop am Küchentisch und habe alles gegoogelt, was ich zu dieser Krankheit wissen muss. Was gilt es zu beachten? Was geht gar nicht? Und wo kriege ich bloß die Ersatz-Lebensmittel her, die wir brauchen?
Wir erfuhren zwei Tage vor Jakobs zehntem Geburtstag, dass der älteste unserer drei Söhne unter Zöliakie leidet. Eine weitgehend genetisch bedingte Autoimmunkrankheit, die sich nicht verwächst. Gegen die es bisher keine Medikamente gibt. Mein Kind wird sein Leben lang eine spezielle Diät einhalten müssen. Gluten – ein Klebereiweiß, das in verschiedenen Getreidearten vorkommt – ist für Jakob absolut tabu. Und damit auch handelsübliche Lebensmittel wie Pizza, Pasta, Nudeln, Brot und Gebäck.
Ich frage mich, wie er jemals ein normales Leben führen soll. Jakob kann nicht einfach wie seine Freunde beim Bäcker was abgreifen, wird später im Biergarten kein Helles bestellen dürfen. Er wird oft derjenige sein, der „Nein“ sagt und zuguckt.

Auf Gluten zu verzichten, ist für Jakob kein Spiel – es ist lebensnotwendig!
Jetzt gibt es viele, die sagen: „Ach, heutzutage hat auch wirklich Jeder eine Unverträglichkeit!“ Als wäre das eine schicke Modeerscheinung, die man sich frei nach Wahl zulegt. Bei manchen Menschen mag das vielleicht so sein. Aber unser Jakob hat keine Wahl. Bei einer Zöliakie ist der Dünndarm dauerhaft entzündet. Bleibt sie unentdeckt, steigt das Darmkrebsrisiko. Die Krankheit könnte also im schlimmsten Fall seinen Tod bedeuten. Das Risiko, daran zu erkranken, wird vererbt.
Das ist jetzt reine Mutmaßung: Aber meine Großmutter und die meines Mannes sind beide an Darmkrebs gestorben. Vielleicht litten sie unter Zöliakie und es wurde nur nicht entdeckt? Zöliakie zu diagnostizieren, ist nämlich in vielen Fällen nicht so einfach. Bei uns dauerte es Jahre, bis wir der Krankheit auf die Spur kamen. Und auch nur, weil wir als Eltern hartnäckig blieben.
Typische Anzeichen für Zöliakie sind unter anderem Erbrechen, Durchfall, Fettstühle und ein aufgeblähter Bauch. Diese Symptome hatte Jakob alle nicht. Aber so mit vier, fünf Jahren ging es mit Beschwerden los, die er als „Blubbern im Bauch“ bezeichnet. Dieses „Blubbern“ tauchte aber nur unregelmäßig auf, manchmal gesellten sich Kopfschmerzen dazu. Das größte Problem aber war Jakobs Gewicht: Während er als Baby und im Beikostalter noch rund und gesund gewesen war, wurde er plötzlich immer weniger. Um ein Kilo zuzunehmen, brauchte Jakob ein Jahr. Und er war deutlich kleiner als seine Altersgenossen.
Jahrelang rätselte ich, was die Ursache für seine Bauchschmerzen sein könnte
Natürlich gingen wir deswegen zum Kinderarzt. Er tastete Jakobs Bauch ab, machte einen Ultraschall und ließ eine Stuhlprobe untersuchen. Gefunden wurde nichts. Organisch sei alles in Ordnung, hieß es. Der Arzt gab mir den Rat, eine Ernährungsberatung zu machen. Das Problem liege wahrscheinlich bei mir: Er mutmaßte, ich gebe meinem Kind nicht genug, beziehungsweise nicht das Richtige, zu essen. Daraufhin habe ich den Arzt gewechselt.
Aber seine Worte konnte ich trotzdem nicht vergessen: War ich vielleicht doch Schuld an Jakobs Schmerzen? Und so versuchte ich immer, ihn zum Essen zu bringen, damit er zunahm und wuchs. Das war ein Dauerthema bei uns. Die Bauchthematik stresste mich total. Denn Bauchschmerzen haben bei Kindern ja nicht nur organische Ursachen, das ist ein sehr komplexes Thema. Brauchte Jakob etwa mehr Liebe – oder eine Pause? War ihm grad alles zu viel? Ich habe ewig darauf rumgedacht, lag nachts oft schlaflos da. Was war die Ursache für seine Bauchschmerzen? Wie kriegen wir das raus?
Die Lage wurde nicht besser – also investierten wir in einen teuren Test
Als Jakob neun war, wusste ich: So geht es nicht weiter. Da hatte er dann auf einmal häufig Bauchschmerzen und Augenringe bis zu den Knien. Er wirkte ständig abgekämpft. Und weil niemand bisher die Ursache für seinen Zustand herausgefunden hatte, konfrontierte ich unsere Hausärztin mit einer Idee, die noch kein Mediziner bisher vorgeschlagen hatte: „Ich möchte, dass Sie einen Bluttest machen!“ Im Internet hatte ich gelesen, dass man so bis zu 700 Allergene erkennen kann. War eines davon der Auslöser für Jakobs schlechten Zustand?
Es gibt Bluttests für weit unter 100 Euro, die man bestellen und dann zu Hause durchführen kann. Aber diese Sache wollten wir Expert:innen überlassen. Daher nahm unsere Hausärztin Jakob Blut ab und schickte es ins Labor. Diese Untersuchung war um ein Vielfaches teurer, weil sie so aufwändig ist. Aber letztendlich war sie uns jeden Cent wert.
Denn bei diesem Test kam ganz eindeutig heraus, dass Jakob unter einer Glutenunverträglichkeit leidet. Normalerweise wird bei Verdacht auf Zöliakie eine Gewebeprobe aus dem Zwölffingerdarm entnommen, um auf Nummer Sicher zu gehen. Doch bei ihm waren die Werte, die auf eine Abwehrreaktion gegen Gluten hindeuten, so hoch, dass die Ärztin abwinkte. In diesem Fall war die Diagnose eindeutig!

Jakobs Zöliakie stellte unseren ganzen Haushalt auf den Kopf
Und das bedeutete, dass wir Jakobs Ernährung rigoros umstellen mussten. Ich band meinen Sohn von Anfang an in alle Schritte mit ein. Schließlich muss er den Rest seines Lebens damit leben und alles über seine Krankheit wissen.
Damit es Jakob gesundheitlich gut geht, sollte er idealerweise komplett auf Gluten verzichten. Schon ein kleiner Semmelbrösel kann bei ihm Probleme auslösen, wie wir jetzt wissen. Die Konsequenz: Seine Lebensmittel lagern wir in der Küche getrennt von unseren. Wir haben für ihn einen eigenen Toaster, eigene Schneidebretter und ein eigenes Handrührgerät zum Backen. Sein Salat darf nicht auf einem Brett geschnippelt werden, vor dem vorher Brot geschnitten wurde. Beim Frühstück hat er eine eigene Butter, damit nicht aus Versehen von unseren Messern Brotkrümel darin hängen bleiben.
Ich will nicht die ganze Familie auf „glutenfrei“ umstellen. Einerseits ist das für Nicht-Betroffene gesundheitlich bedenklich, andererseits auch ganz schön teuer. Es gibt ja Gott sei Dank inzwischen viele glutenfreie Produkte. Aber die Preise sind in manchen Fällen ganz schön happig: Jakob liebt zum Beispiel Laugenbrezeln. Besorge ich die tiefgefroren, kosten vier Stück elf Euro – beim Bäcker um die Ecke kriege ich für den selben Betrag zehn „normale“.
Zuhause klappt die glutenfreie Ernährung wunderbar – unterwegs ist es oft eine Katastrophe
In den eigenen vier Wänden haben wir Jakobs Ernährung problemlos unter Kontrolle. Seine Lieblingsplätzchen backe ich einfach mit einer glutenfreien Mischung. Ich kaufe ihm auch schonmal glutenfreie Brownies. Da steckt unheimlich viel Chemie drin – aber er freut sich so darüber und soll ja nicht komplett auf süße Leckereien verzichten müssen.
Schwierig wird’s allerdings, sobald wir das Haus verlassen. Denn dann müssen wir uns immer auf die Aussagen Anderer verlassen: Jakob darf unter anderem keine Pommes essen, die in Frittierfett gegart wurden, in dem vorher ein Schnitzel mit Panade geschwommen ist. Zum Geburtstag eines Freundes, der in einer Kletterhalle stattfand, wo es nur reguläre Pizza gab, musste ich ihm eigenes Essen mitgeben.
Aber wir haben einen Italiener in Schwabing gefunden, der tatsächlich glutenfreie Nudeln serviert. Er macht Jakob sogar glutenfreie Pizza. In den Sommerferien sind wir schon zum dritten Mal in ein kleines Hotel auf Kreta gereist, in dem die Mitarbeiter:innen für Jakob extra glutenfreie Mahlzeiten zubereiten. Da wird er morgens immer freundlich gefragt, was er am Abend essen möchte. Was für eine Erleichterung! Den ersten Urlaub nach der Diagnose haben wir nämlich noch mit einem Koffer voll Backup-Essen angetreten…

Jakobs Zöliakie gibt noch viele Rätsel auf und wir fühlen uns allein gelassen
Wir kommen inzwischen alle größtenteils klar mit der Diagnose. Auch Jakob. Mal steckt er sie besser weg, mal schlechter. Unsere beiden jüngeren Söhne sind wirklich putzig. Wollen wir unterwegs was essen, fragen sie oft schon stellvertretend für ihren großen Bruder: „Ist da Gluten drin?“
Über ein Jahr hält sich Jakob jetzt schon an seine Diät. Seine Bauchschmerzen sind so gut wie nicht mehr vorhanden. Aber der Wachstumsschub, auf den ich so gehofft hatte, ist bis jetzt noch nicht erfolgt. Alle drei Monate muss mein Sohn jetzt sein Blut untersuchen lassen, auf zwei Werte kommt es dabei ganz besonders an (sie heißen IgA und IgG). Beim letzten Blutbild waren die Werte auf einmal wieder hochgeschossen im Vergleich mit der vorherigen Untersuchung. Wir konnten uns das null erklären, hatten uns doch an alle Vorgaben gehalten! Ich war am Boden zerstört und fragte mich mal wieder: Was mache ich noch falsch?
Vom zuständigen Arzt kommt keine Hilfe. Er hat keine Erklärung, regte allerdings an, ich solle meinen Sohn mal fragen, ob er nicht heimlich doch glutenhaltige Snacks esse. Das würde Jakob nie tun, das weiß ich! Ganz ehrlich: Mein Mann und ich fühlen uns oft allein gelassen. Wir würden unserem Sohn so gerne dabei helfen, gesund zu werden, wissen aber nicht, wie.
Die Zukunft meines Sohnes ist ungewiss – und die Vergangenheit würde ich gerne ändern
Beim jüngsten Bluttest waren Jakobs Werte im Normbereich und wir haben uns unendlich gefreut. Aber wie wird sich das weiterentwickeln? Wird seine Krankheit ein Damoklesschwert sein, das weiterhin über uns schwebt? Oder geht uns das alles in Fleisch und Blut über? Wird Jakob in Zukunft mal einen „Cheat Day“ einlegen können, oder schnellen dann seine Werte wieder exorbitant in die Höhe?
Letztendlich ist bei der Zöliakie noch vieles unerforscht, daher gibt es keine Zukunftsprognosen. Stattdessen schaue ich oft reuevoll in die Vergangenheit: Ich wünschte, ich hätte schon Jahre früher auf einen großen Bluttest gedrungen. Dann hätte Jakob weniger gelitten. Die Schuldgefühle lassen mich einfach nicht los…
