Antonia Wise-Stewart verwandelte ihr Büro zu Hause in ein Atelier, um in Ruhe malen zu können | Foto: privat

„Mein Hobby Malen gehört nur mir!“

Autorin

Antonia Wise-Stewart

Als ich Mutter wurde, verschlangen meine beiden Kinder mein Leben und mich als Person vollends. Ich opferte alles für sie – nicht, dass sie danach gefragt hätten. Dieser Umstand ergab sich aus einer Mischung aus Liebe, Überforderung, Wandel, gesellschaftlichem Druck, Schuld und dieser überwältigenden Besessenheit, die ich für sie empfand.

Ich war in jeder möglichen Weise ausgebrannt, und obwohl ich meine Kinder zutiefst liebe, zählte ich oft die Stunden bis zur Schlafenszeit. Ich fühlte mich wie eine Leibeigene. Eine Leibeigene meiner Kinder, aber auch meines Mannes, des Hauses, der Hausarbeiten und meines Jobs. Es kam mir vor, als würde ich für jemand anderen leben, nicht für mich.

Mein Tag startete mit dem Dasein als Mutter, dem Hinlegen von Outfits, Frühstück machen, aufräumen und die Kinder zur Schule bringen. Dann widmete ich mehrere Stunden meiner Arbeit und meinem Chef und wurde gerade rechtzeitig fertig, um die Kinder wieder von der Schule abzuholen, ihnen zuzuhören, ihnen zu helfen, Freundschaften einzuordnen und sich in neue Klassen einzufinden. Ich badete sie und brachte sie ins Bett. Danach brauchte mein Mann meine Zeit, um über den Tag, seine Arbeit und seine Bedürfnisse zu sprechen. Die Vorstellung, darüber hinaus noch Energie zu haben, um eine romantische oder sexuelle Verbindung herzustellen, war lächerlich.

Ich war erschöpft.

Nur für meine Familie da sein – das konnte so nicht mehr lange weitergehen

Ich machte weder meine Kinder, meinen Chef noch meinen Mann dafür verantwortlich. Sie alle brauchten meine Aufmerksamkeit. Aber ich ahnte, dass ich so nicht mehr lange weitermachen konnte.

Vor den Kindern hatte ich viele Hobbys und verbrachte meine Woche damit, auf meine eigenen Bedürfnisse zu achten. Ich trieb Sport, ging zur Arbeit, traf Freunde. An den Wochenenden und Abenden hatte ich Zeit für Yoga, sogar lesen war drin! Doch mit Kindern fehlten mir dazu Zeit und Kraft.

Viele rieten mir, ich solle „meinen inneren Brunnen füllen“. Dass ich nichts geben könne, wenn mein Brunnen leer sei. Das war mir klar. Aber wie sollte ich das machen? Ein heißes Bad allein würde mein Problem nicht lösen. Ich brauchte mehr als ein Abendessen oder einen Spaziergang im Grünen.

Ein Retreat wäre himmlisch gewesen. Aber auch dafür war die Zeit zu knapp – und das Geld. Ich musste realistisch darüber nachdenken, was in mein ohnehin schon übervolles Leben passen könnte.

Die Entdeckung der Selbstliebe in Zeiten von Corona

Dann brach die Corona-Pandemie über uns herein und ich war plötzlich jeden Tag zu Hause. In meinem Job gab es nicht mehr viel zu tun. Die paar Stunden, die ich gebraucht wurde, konnte ich von zu Hause aus arbeiten. Zum ersten Mal seit Jahren war mein Kalender leergefegt.

Dieser Freiraum ermöglichte es mir, mein Leben auf eine andere Art und Weise zu betrachten und anzugehen. Natürlich musste ich immer noch die Rolle der Ehefrau und Mutter erfüllen, aber zumindest hatte ich das Gefühl, dass mir bei der Gestaltung meiner Tage eine gewisse Flexibilität blieb. Ich fing an, die Kinder dazu zu bringen, mit mir spazieren zu gehen. Ich nahm mir Zeit, um mir ein richtiges Mittagessen zu kochen. Aber ich brauchte mehr. Ich probierte alle üblichen Hobbys aus: häkeln, joggen, Klavier spielen, Rad fahren, kochen… Allerdings fühlte sich nichts davon wie ein Akt der Selbstliebe an, sondern eher wie zusätzliche Arbeit. Das Ganze war eine Sackgasse.

Das Malen half der Britin, wieder herauszufinden, wer sie wirklich ist und was sie will | Foto: privat

Malen wie früher als junges Mädchen? Diese Idee weckte viele Emotionen in mir…

Ich überlegte, zu welchen Hobbys ich mich als Kind hingezogen gefühlt hatte. Damals war ich besessen vom Zeichnen! Vielleicht sollte ich es noch einmal damit versuchen? Es fühlte sich kindisch an, als erwachsene Frau wieder mit dem Zeichnen zu beginnen. Es war mir peinlich und ich hatte Angst, dass ich vergessen haben könnte, wie es geht. Ich war überrascht, wie viele Emotionen diese Idee in mir auslöste. Mehrere Wochen sträubte ich mich dagegen und dann, verzweifelt auf der Suche nach einem neuen Weg, bestellte ich online einige Kunstmaterialien.

Ab da erklärte ich 15 Uhr zu „meiner Zeit“. Ich machte den Kindern einen Film an, schob mir meine AirPods mit lauter Musik ins Ohr (Beyoncé) und fing an zu zeichnen, zu skizzieren und mit Kunst zu spielen. Ich setzte mich in die Küche, um die Kinder im Auge zu haben.

Fast wie ich es erwartet hatte, produzierte ich absoluten Unsinn. Ein abstraktes Durcheinander und schlecht gezeichnete Porträts. Aber etwas in mir sagte mir, ich solle weitermachen. Es gab immer wieder Lockdowns und so blieb mir viel Zeit zum Üben. Ich beschäftigte mich nicht lange mit meinem neuen Hobby, manchmal ließen mich die Kinder nur für 30 Minuten allein. Aber ich betrachtete es immer noch als Zeit, die ich meiner Kreativität widmete. Das Malen war leider keine schnelle Lösung für mein Gefühl, von allem überfordert und von allen über die Maßen gebraucht zu werden. Aber ich betrachtete es als eine Form der Disziplin. Eine Struktur, die ich in meinem Leben brauchte, um besser zurechtzukommen und um als Person zu wachsen.

Endlich gab es wieder eine Sache, die nur mir gehörte

Statt mich als Künstlerin zu bezeichnen, nannte ich das Malen „mein Ventil für Kreativität“. Das nahm viel Druck und Erwartungen. Ich zwang mich dazu, mich hinzusetzen und etwas zu erschaffen. Und ich zwang mich ebenso dazu, mich selbst nicht zu bewerten. Wenn etwas herauskam, das mir nicht gefiel, sagte ich „Besser außen als innen“ oder „Es ist interessant, dass ich das geschaffen habe“ oder „Ich habe dabei definitiv viel gelernt“.

In so vielen Bereichen meines Lebens musste ich die Antworten haben: Auf welche Schule schicke ich meine Kinder? Was muss ich sagen, um sie zu trösten? Was macht ein gesundes Abendessen aus? Was eine gute Kollegin? Was wünscht sich jeder einzelne Verwandte zum Geburtstag? Und wann sind überhaupt die Geburtstage?

Kreativität war mein Bereich. Einer, in dem ich keine Antworten haben musste. Ich konnte mich von meiner Intuition sowie meinen Interessen leiten lassen. Und fand Teile meiner selbst, von denen ich nicht gewusst hatte, dass sie existieren. Endlich gab es wieder eine Sache, die nur mir gehörte.

Antonia bezeichnet ihre Kunst als „schamlos, laut, chaotisch, lustig und laut“. Ihr Hobby schenkte ihr mehr Selbstliebe – und Mut | Foto: privat

Mein Hobby eröffnete mir neue Räume in meinem Kopf

Im Laufe der nächsten Monate wurden meine Porträts immer besser. Ich kam in einen Flow und legte mich auf einen Stil fest, der zu mir passte. Ich fand heraus, welche Materialien mir am besten gefallen und welche Themen mich inspirieren. Ich hörte auf, mich selbst schlecht zu machen und erinnerte mich ständig daran, dass das, was ich tat, für mich und niemanden sonst war. Also war es auch egal, wie schrecklich es zu sein erschien.

Ich erlernte eben eine neue Fähigkeit und es würde Geduld und Zeit erfordern, diese zu beherrschen. Als ich meinem Sohn das Fahrradfahren beibrachte, schrie ich ihn schließlich auch nicht jedes Mal an, wenn er herunterfiel. Ich sagte: „Gut gemacht, das wird schon. Übe weiter, ich bin stolz auf dich.“ Ich begann, mich selbst genauso zu ermutigen, wie ich es mit meinen Kindern tat. Ich wurde freundlicher zu mir selbst.

Durch die Freundlichkeit, die ich mir entgegenbrachte, wuchs mein Hobby langsam weiter und das lehrte mich auch, Geduld mit mir selbst zu haben. Meine Kunst entwickelte sich vom Experimentellen hin zum puren Ausdruck meiner selbst.

Mein Ziel war, authentisch zu sein. Ich hatte Jahre damit verbracht, anderen Menschen Freude zu bereiten. Jetzt fragte ich mich: Was will ich auf der Leinwand sehen? Welche Gefühle habe ich und wie kann ich diese ausdrücken?

Ich fand kleine Räume in meinem Kopf, die ich vorher noch nie oder schon lange nicht mehr betreten hatte. Sie waren voller wirklich seltsamer Ideen und Bilder. Bilder, die im starken Widerspruch zu meinem Status als Vorstadt-Mittelklasse-Mutter standen. Ein Stempel, den mir die Gesellschaft aufgedrückt hatte. Da waren plötzlich Visionen von Skelettvögeln und Drachen, ich fühlte mich zu gewagten Konzepten und Neonfarben hingezogen.

In meinem Kopf steckte eine Person, die ich vorher nicht rausgelassen hatte! Ich war sehr nervös, als ich mich darauf einließ. Was würden meine Kinder denken? Und mein Mann? Ich versuchte zuerst, meine Leinwände zu verstecken. Aber ich hatte genug Selbsthilfebücher gelesen, um zu wissen, dass ich dazu stehen musste, was ich geschaffen hatte. Wenn mich etwas anspricht, sollte ich mich nicht dafür schämen. Ich begann, meiner Familie Einblick in meine Werke zu gewähren, wobei meine einzige Bedingung an sie war: „Seid bitte freundlich mit euren Kommentaren.“

Antonias Tochter Lumen ist gerne Gast im Atelier ihrer Mama und eine ehrliche Kritikerin | Foto: privat

Durchs Malen konnte ich meinen Kindern etwas Wichtiges beibringen

Sie waren immer nett – na ja, fast. Meine Kinder sind schließlich noch sehr jung! Es gab Bilder, die ihnen gefielen, und andere, die sie nicht verstanden. Ich war stolz darauf, meine Reise der Selbstfindung mit den beiden zu teilen. Ich zeigte ihnen, dass wir selbst als Erwachsene nicht alles können, und dass wir immer weiter wachsen, lernen und Teile von uns selbst finden. Auch, wenn das Ergebnis seltsam und ungewöhnlich aussehen kann, ist es völlig normal und gesund.

Aber meine Kinder fanden keines meiner Werke seltsam. Tatsächlich fühlten sie sich von den ungewöhnlicheren Themen angezogen. Je abstrakter, desto besser. Das Gute an Kindern ist, dass sie nicht lügen können und man daher immer sehr ehrliche Antworten erhält. Sie stellen Fragen und weisen mich auf Dinge hin, die sie in meinen Bildern erkennen. Nur meine „Aktkollektion“ gefiel ihnen nicht besonders – ha.

Kurz vor meinem 40. Geburtstag kam die große innere Freiheit

Als Kind hatte man mir gesagt, meine Ideen seien „empörend“. Jetzt reiste ich gedanklich in die Vergangenheit und gab meinem jungen Ich genau das Vertrauen in eigene Ideen, das mir damals gefehlt hatte. Warum kann man Rosa und Rot nicht nebeneinander verwenden? Warum soll man keinen Teufel auf einem Berg malen oder eine Reihe bunter Landschaften, die im wirklichen Leben nicht existieren?

Als mein 40. Geburtstag nahte, wurde das Thema Freiheit noch wichtiger für mich. Ein enger Freund von mir starb. Ich begriff, dass das Leben jederzeit enden könnte. Wollte ich wirklich noch mehr Zeit damit verbringen, mir Gedanken darüber zu machen, was die Leute über meine Kunst denken? Als ich dieses Hindernis überwunden hatte, kam es mir völlig verrückt vor, zu glauben, dass mich das überhaupt mal interessiert hatte.

Ich kann entscheiden, was auf die Leinwand oder das Blatt Papier kommt. Meine Ideen gelten. Ich habe keinen Einfluss darauf, wie hoch die Hypothek für unser Haus ist, welchen Job ich annehme oder wie es meinem Kind in der Schule geht. Aber auf dieser Leinwand kann ich ALLES bestimmen. Ich ging größere Risiken ein, probierte neue Materialien und größere Leinwände aus. Zweifelte weniger an mir. Verwandelte mein Büro zu Hause in ein halbes Kunstatelier. Ich bedeckte den Boden mit Zeitungen und kaufte eine größere Staffelei.

Wie wird eine Leidenschaft alltagsfähig? Ich fand einen Weg

Irgendwann ebbte die Pandemie ab und so begann ich wieder mit der Pendelei in die Stadt und musste mich entscheiden, ob ich mein „Hobby“ weiterführen wollte. Auf einmal fühlte es sich lächerlich an, es noch länger als solches zu bezeichnen. Es machte mich inzwischen aus und war zu etwas geworden, das ich tun musste.

Aber als Produktionsleiterin beim Fernsehen bin ich voll im Einsatz. Die Arbeitstage sind lang und das Pendeln zum Studio nahm jeden Tag mehrere Stunden in Anspruch.

Ich wusste, dass ich trotzdem diszipliniert bleiben musste, was das Malen anging.

Ich musste mir Zeit für mich selbst nehmen.

Ich nahm mir vor, abends zu malen. Ich bemalte kleinere Leinwände mit Acrylfarben, die sich leicht herrichten und von den Pinseln abwaschen lassen. Ich musste weiter Künstlerin bleiben! Aber ich wusste auch, dass ich mich arrangieren musste, wenn diese Tätigkeit auf Dauer in mein Leben passen sollte.

Daher malte ich abends nicht in meinem Büro/ Atelier, sondern in der Küche. So konnte ich meine Leidenschaft zwischen dem Gute-Nacht-Kuss für die Kinder und dem Ausräumen der Spülmaschine unterbringen. Das Ziel: Mein Leben wie gewohnt am Laufen halten, aber mich trotzdem innerhalb meiner Grenzen ausleben. Meine Familie verstand, dass sie mir Raum geben musste, wenn ich zeichnete. Mein Mann und die Kinder ließen mich (meistens) in Ruhe und unterbrachen mich nur dann, wenn sie wirklich etwas brauchten.

Eine Leidenschaft für die ganze Familie: Auch ihren Sohn Otis hat Antonia schon mit der Lust aufs Malen angesteckt | Foto: privat

Ich kämpfte fürs Malen, für meine Selbstliebe – und meine Familie

Manchmal hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich am Ende eines langen Arbeitstages nach Hause kam und kurz darauf mit dem Malen begann. Aber mir war klar, dass ich nicht wieder so leben konnte wie vorher. Ich wollte meinen Kindern vorleben, wie man als Elternteil persönliche Erfüllung findet. Denn ich weiß: Wenn ich etwas für mich selbst habe, bin ich geduldiger und liebevoller ihnen gegenüber.

Ich bekomme mittlerweile regelmäßig Komplimente, wenn ich meine Kunst in den sozialen Medien teile. Manche sagen: „Oh, ich wünschte, ich könnte mehr sein wie du.“ Das bringt mich zum Lachen, weil ich den größten Teil meines Lebens damit verbracht habe, nicht ich selbst zu sein, und viel Energie auf den Versuch verschwendet habe, mehr wie alle anderen zu sein. Ich habe versucht, ruhiger, weniger emotional und weniger intensiv zu sein. Ich habe versucht, mich mehr wie eine „Erwachsene“ zu kleiden und zu benehmen.

Durch meine Kunst habe ich das alles aufgegeben und bin ganz zu der geworden, die ich wirklich bin. Meine Kunst ist schamlos, laut, chaotisch, lustig und laut. Es fühlt sich wirklich großartig an, sich auf die Person einzulassen, die man im Innersten ist. Manche Menschen mögen meine Kunst, andere nicht. Aber zumindest kennen diejenigen um mich herum mein wahres Ich.

Ich bin so froh, dass ich mich dazu durchgerungen habe, meine künstlerische Seite wiederzuentdecken. Das macht mich sehr stolz, denn es war nicht einfach. Ich bin überzeugt davon, dass das Leben dir nicht einfach Möglichkeiten schenkt. Du musst für alles kämpfen, was du willst und brauchst.

Ich habe es einerseits für mich getan, um als Mutter nicht meine Identität zu verlieren. Andererseits habe ich es aber auch für meine Kinder getan. Damit sie ebenfalls an sich selber festhalten, wenn sie mal Eltern werden.

Antonias Kunst kannst du online anschauen!

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