
Nudging statt Nörgeln – warum es besser funktioniert als alle Verbote
Anna Butterbrod
Wer kennt‘s nicht? Du verbietest deinem Kind Schokolade und alles, was es will, ist: Schokolade! Du legst deinem Kind Lebensmittel ans Herz, weil sie gesund sind – und alles, was dein Kind nicht will, sind: gesunde Lebensmittel! Wenn deine bisherigen Bemühungen rund um den Speiseplan deiner Familie nicht von Erfolg gekrönt war, dann setz‘ doch statt auf Verbote und strenger Vorgaben mal auf Nudging (engl. „anstupsen“).
Wie diese Methode funktioniert und wo wir ihr im Alltag sowieso alle regelmäßig begegnen, erklärt Vanessa Westphal, Mitgründerin der Ernährungs-App „Choosy“, die Menschen mit Nudging zu gesünderem Essen bewegt.
Was ist eigentlich Nudging?
Eine Strategie zur Verhaltensänderung. Ziel dabei ist, dass Menschen sich ohne Zwang für ein erwünschtes Verhalten entscheiden. Die Nudging-Methode macht sich zunutze, dass wir jede Entscheidung in einer direkten Umgebung treffen, die uns beeinflusst. Schaffen wir also eine bestimmt Umgebung, ist auch ein bestimmtes Verhalten zu erwarten. Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Richard Thaler hat mit seinem Team untersucht, wie sich Nudging auf den Menschen auswirkt und damit 2017 den Wirtschafts-Nobelpreis erhalten.
Ihr verwendet Nudging bei „Choosy“. Wie läuft das ab?
Wir wollen gesunde, klimafreundliche Ernährung zur einfachsten Wahl machen und haben eine Künstliche Intelligenz (KI) entwickelt, die uns dabei hilft. „Choosy“-Nutzer:innen können in der App ihre Essenswünsche, ihre Budgetgrenze und einen Supermarkt auswählen, von dem sie die Zutaten beziehen wollen. Aus diesen Vorgaben erstellt die KI einen Wochenplan. Und dabei kommt Nudging ins Spiel: Ähnlich wie Spotify den Musikgeschmack der Nutzer:innen mit der Zeit erkennt, erkennt „Choosy“ die persönlichen Essvorlieben – und spielt nach und nach immer gesündere Gerichte aus, die zudem saisonal sind. Für die muss man sich nicht entscheiden, sondern kann in der App auch andere auswählen. Wir zwingen ja nicht, wir nudgen nur.
Ändert sich das Verhalten eurer Nutzer wirklich? Könnt ihr sie in eine gesündere Richtung „stupsen“?
Es klappt sogar besser, als wir es uns anfangs erhofft haben. Das liegt auch an zwei Scores, die genau anzeigen, welche Nährwerte der eigene Speiseplan enthält und wie nachhaltig er ist. Das sorgt für mehr Transparenz. Die Nutzer:innen haben richtig Spaß an der Verbesserung ihrer Scores. Sie fangen an, über ihre Wahl nachzudenken: Ist das jetzt ein gesundes Gericht? In der App kann man ablesen, ob man nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung genug Gemüse, Hülsenfrüchte oder Vollkornprodukte isst. Wir arbeiten daran, das sogar noch zu verbessern und den Nutzer:innen auf sie zugeschnittene Tipps zu geben. So wie „Hey, ergänze doch dein Frühstück um Cashewkerne“, weil pro Woche mindestens 175 Gramm Nüsse empfohlen sind.

Warum Nudging statt Verbote? Funktioniert diese Taktik besser?
Ja, absolut. Man kennt das ja vom eigenen Verhalten. Wenn man etwas verbietet, bekommt es einen besonderen Reiz. Außerdem ist ein Verbot immer mit einem negativen Gefühl verbunden. Ich verstehe zum Beispiel Abnehmprogramme nicht, bei denen Lebensmittel einen bestimmten Punktwert haben. Man addiert seine Mahlzeiten und darf irgendwann nicht mehr essen. Dabei ist es doch umgekehrt viel erfolgreicher: Bei „Choosy“ wird man dafür belohnt, dass man sich gegen bestimmte Lebensmittel wie Fleisch oder Zucker entscheidet. Dann steigen nämlich der Gesundheits- und der Nachhaltigkeitsscore.
Kann Nudging auch dazu verwendet werden, um unser Verhalten in puncto Essen in eine negative Richtung zu lenken?
Supermärkte wissen, dass diese Methode funktioniert und nutzen sie schon lange. Allein der Aufbau ist ein riesiger Nudge, eine Manipulation: Am Eingang gibt‘s immer Gemüse, Obst und Blumen. Das machen die nicht, weil sie uns zum gesunden Essen motivieren wollen, sondern weil es uns ein gutes Gefühl gibt. Nahrungsmittel des Grundbedarfs wie Wasser, Mehl oder Öl sind komplett verteilt, so dass man durch alle Regale gehen muss, um diese in den Einkaufswagen zu legen. Für die Händler:innen ist bei diesen Produkten eine geringe Marge drauf, sie verdienen nicht viel daran. Daher wollen sie ihre Kund:innen dazu motivieren, auf dem Weg dorthin noch möglichst viele andere Sachen mitzunehmen. Teure Markenprodukte stehen im Regal auf Augenhöhe, die günstigeren weit oben oder unten. Und dann ist da noch der Quengelbereich an der Kasse mit bunten Produkten auf Höhe von Kinderaugen. Supermärkte haben das echt perfektioniert, insbesondere in Deutschland.

Aber lassen wir uns beim Einkauf tatsächlich von solchen „Tricks“ beeinflussen?
Leider ja. Wenn es um Ernährung geht, trifft jeder von uns 226 unbewusste Entscheidungen am Tag. Es ist ein sinnvolles Tool vom Gehirn, dass man nicht über jede Entscheidung aktiv nachdenkt. Wenn sich aber mal der Autopilot eingestellt hat, ist das nur schwer zu ändern. Wissenschaftler der Universität Oxford haben untersucht, ob wir Schoko-Osterhasen kaufen, weil Ostern ist oder, weil dafür Werbung gemacht wird. Sie beseitigten in 34 Supermarktfilialen extra aufgestellte Displays mit den süßen Hasen. Die gab‘s dort dann nur im Regal zwischen anderen Süßigkeiten. Das Ergebnis: Pro Filiale und Woche wurden 21 Kilo weniger Schoko-Osterhasen verkauft als in unveränderten Vergleichsmärkten. Genau deswegen wurden die Aufsteller ja eingeführt, sie nudgen uns zum Kauf. Wir hätten alle gerne Entscheidungsfreiheit, aber die gibt es de facto nicht.
Wie könnte man Nudging im Handel einsetzen, um uns zu gesünderem Essen zu bewegen?
Indem man Obst und Gemüse über den ganzen Supermarkt verteilt platziert – auch an der Kasse. Oder Disney-Figuren Werbung dafür machen ließe. Aber leider gibt es zu wenige Parteien mit in Summe zu wenig Geld, die daran Interesse haben, dass wir uns gesund ernähren.
Kann ich meine Familie durch Nudging dazu bringen, gesünder zu essen?
Es gibt viele Möglichkeiten, die auch wissenschaftlich belegt sind. In Firmenkantinen wurde zum Beispiel getestet, was passiert, wenn man kleinere Portionen anbietet und Äpfel aufgeschnitten dastehen statt im Ganzen. Das Kalorienkonto der Mitarbeiter:innen verringerte sich drastisch. Viele verzichteten zwar nicht auf ihren Kuchen zum Dessert, aber sie griffen immerhin zusätzlich zum Obst. Das ist ein guter Anfang und kann auch zu Hause funktionieren: Einfach mal kleinere Portionen servieren und zu jeder Mahlzeit gesunde Lebensmittel in mundgerechten Stücken auf den Tisch stellen. Das Max-Planck-Institut fand außerdem heraus, dass Kinder 100 Gramm mehr Obst und Gemüse essen, wenn sie zehn Minuten länger am Tisch sitzen. Es macht also Sinn, sich mehr Zeit für Mahlzeiten mit der Familie zu nehmen.

Jeder siebte Todesfall in Deutschland ist laut der „Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ (OECD) auf ungesunde Ernährung zurückzuführen. An welchen Stellen könnte Nudging helfen, das in Zukunft zu ändern?
An allen, wo Ernährungsentscheidungen getroffen werden: online, auf der Straße und in Supermärkten. Aber positives Verhalten müsste dafür auch von politischer Seite aus belohnt werden. Großbritannien ist uns da weit voraus, dort gibt es eine Zuckersteuer für Getränke. Diese Steuer zahlen die Konsument:innen. Die Firmen wussten: Wenn das Getränk teurer wird, kaufen die Leute es nicht mehr. Daher reduzierten sie den Zuckergehalt. Das nennt man doppeltes Nudging.
